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„Kulturspezifische Störungen: Die Vielfalt der Kulturen und ihre einzigartigen psychischen Störungen.“

 

Diese Thematik ist Bestandteil unseres Master-Fernstudiums MSc Klinische Psychologie.

Kulturspezifische Störungen sind psychische Erkrankungen, die in bestimmten Kulturen oder ethischen Gruppen häufiger auftreten als in anderen. Die Untersuchung dieser Störungen ermöglicht es uns, die Wechselwirkungen zwischen Kultur, Gesellschaft und psychischer Gesundheit besser zu verstehen. In verschiedenen Kulturen gibt es eine Vielzahl von Überzeugungen, Werten, sozialen Normen und Lebensstilen, die die Entstehung und Manifestation von psychischen Störungen beeinflussen können.

Beispiele für eine kulturspezifische Störung ist Koro (Koro = Schildkrötenkopf), das in einigen asiatischen Ländern, insbesondere in Japan, beobachtet wird. Koro ist durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass der Penis sich in den Körper zurückzieht oder schrumpft und zu Impotenz führt. Dieses Störungsbild kann als Ergebnis des kulturellen Kontextes betrachtet werden, in dem Potenz und sexuelle Leistungsfähigkeit eine hohe Bedeutung haben. In einer Gesellschaft, in der männliche Potenz als wichtiges Merkmal der Männlichkeit angesehen wird, kann die Angst vor Impotenz zu Symptomen führen, die als Koro bezeichnet werden (Cheng et al., 2007).

Kulturspezifische Störungen, wie beispielsweise Magersucht im Zusammenhang mit dem Schönheitsideal oder Zwangsstörungen in Bezug auf überkorrekte Angepasstheit, lassen sich auf die enge Verbindung zwischen psychischer Gesundheit und Kultur zurückführen. Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Werte, Normen und Erwartungen, die das individuelle Verständnis von Schönheit und sozialer Akzeptanz beeinflussen. Einflüsse wie Medien, gesellschaftliche Normen und soziale Interaktionen können das Selbstwertgefühl und das Körperbild einer Person beeinflussen und zu kulturspezifischen Störungen beitragen.

Laut einer Studie von Becker und anderen (2010) wurde eine starke Korrelation zwischen dem westlichen Schönheitsideal, das oft extrem schlanken Körpern entspricht, und der Entwicklung von Magersucht festgestellt. In Gesellschaften, in denen Dünnsein als Schönheitsideal gilt, können Menschen, insbesondere junge Frauen, das Streben nach diesem Ideal als Mittel zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls und ihrer sozialen Akzeptanz betrachten. Dies kann zu obsessivem Verhalten in Bezug auf Nahrungsaufnahme und Körpergewicht führen und letztendlich zu einer Essstörung wie Magersucht führen.

Ein ähnlicher Zusammenhang wurde in Bezug auf Zwangsstörungen und überkorrekte Angepasstheit beobachtet. Laut einer Studie von Rachman und Hodgson (1980) kann ein kultureller Fokus auf Ordnung, Perfektion und Sauberkeit zu einem erhöhten Risiko für Zwangsstörungen führen. In Kulturen, in denen ein hoher Wert auf Kontrolle und Konformität gelegt wird, können Menschen das Bedürfnis entwickeln, strengere Regeln und Rituale zu befolgen, um Unsicherheiten zu bewältigen und sich selbst zu beruhigen. Dieses übertriebene Verhalten kann zu Zwangsstörungen führen, bei denen wiederkehrende zwanghafte Gedanken und Handlungen auftreten.

Diese Vielfalt unterstreicht die Bedeutung einer kultursensiblen Herangehensweise in der Psychologie und Psychotherapie, um angemessene Behandlungsstrategien zu entwickeln.

Kulturspezifische Störungen sind ein faszinierendes Forschungsfeld in der Psychologie, das uns hilft, die Vielfalt psychischer Erkrankungen in verschiedenen Kulturen zu verstehen. Die kulturelle Vielfalt spiegelt sich in unterschiedlichen Symptomen, Ausdrucksformen und Konzeptualisierungen von psychischen Störungen wider. Die Gründe für das Vorhandensein kulturspezifischer Störungen sind vielfältig und komplex. Kulturelle Faktoren wie Traditionen, Werte, soziale Normen und religiöse Überzeugungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Störungen. Darüber hinaus können auch soziale, ökonomische und politische Einflüsse eine Rolle spielen. Ein besseres Verständnis dieser Zusammenhänge ist wichtig, um kulturspezifische Störungen angemessen zu diagnostizieren und zu behandeln.

  1. Amoklauf (Südostasien): Plötzliche, unkontrollierte Gewaltausbrüche, die in einigen Ländern Südostasiens auftreten. Diese Störung wurde mit Faktoren wie sozialem Druck, Verlust des Gesichts und dem Konzept des „Gesichtsverlusts“ in Verbindung gebracht (Kung, 2016).

  2. Hikikomori (Japan): Eine Phänomen, bei dem junge Menschen sich über einen längeren Zeitraum von der Gesellschaft zurückziehen und soziale Isolation praktizieren. Es wird angenommen, dass dies auf den hohen Leistungsdruck, soziale Erwartungen und die Überforderung in der japanischen Gesellschaft zurückzuführen ist (Teo, 2010).

  3. Ghost Sickness (Native American): Eine Störung, bei der Personen glauben, von Geistern heimgesucht oder von Verstorbenen beeinflusst zu werden. Dieses Phänomen ist bei einigen indigenen Kulturen Nordamerikas bekannt (Gone & Trimble, 2012).

  4. Koro-Syndrom (Südostasien): Eine Angststörung, bei der Männer die Angst haben, dass ihre Genitalien schrumpfen oder im Bauch verschwinden. Dieses Phänomen wurde hauptsächlich in Ländern wie China, Thailand und Malaysia beobachtet (Lee et al., 2011).

  5. Shenjing Shuairuo (China): Eine kulturspezifische Störung in China, die sich durch körperliche Symptome wie Müdigkeit, Schwäche und Schmerzen äußert. Diese Störung wird oft auf soziale und kulturelle Faktoren zurückgeführt (Zhang et al., 2010).

  6. Susto (Lateinamerika): Eine Kultur-spezifische Störung, die in einigen lateinamerikanischen Ländern beobachtet wird und mit Angst, Depression und psychosomatischen Symptomen einhergeht. Sie wird oft mit traumatischen Erfahrungen und dem Glauben an den Verlust der Seele in Verbindung gebracht (Medina-Mora et al., 2011).

  7. Zar-Besessenheit (Afrika, Naher Osten): Eine Störung, bei der Personen glauben, von Geistern oder Dämonen besessen zu sein. Dieses Phänomen tritt in verschiedenen afrikanischen und nahöstlichen Kulturen auf und wird oft mit kulturellen Überzeugungen und religiösen Praktiken in Verbindung gebracht (Dein & Tabbane, 2012).

  8. Pibloktoq (Arktisregionen): Eine Störung, die in den arktischen Regionen, wie bei den Inuit, beobachtet wird. Sie äußert sich in unkontrollierbaren Verhaltensweisen wie unkontrolliertem Schreien, Zerreißen von Kleidung oder Verlassen des Hauses in winterlicher Kleidung (Kirmayer & Young, 1992).

  9. Latah (Malaysia, Indonesien): Eine Störung, bei der Menschen auf ungewöhnliche Weise auf plötzliche akustische oder visuelle Reize reagieren. Die Reaktionen können Verhaltensweisen wie Schreien, Zucken, unwillkürliche Bewegungen und das Wiederholen von Wörtern oder Phrasen umfassen (Kroeber, 2019).

  10. Pibloktoq (Arktisregionen): Eine Störung, die in den arktischen Regionen, wie bei den Inuit, beobachtet wird. Sie äußert sich in unkontrollierbaren Verhaltensweisen wie unkontrolliertem Schreien, Zerreißen von Kleidung oder Verlassen des Hauses in winterlicher Kleidung (Kirmayer & Young, 1992).

  11. Kufungisisa (Simbabwe): Eine Störung, die in Simbabwe beobachtet wird und sich durch Symptome wie Angst, Depression, körperliche Beschwerden und soziale Rückzugstendenzen äußert. Es wird angenommen, dass kulturelle Überzeugungen und soziale Stressoren eine Rolle spielen (Patel, 2003).

  12. Bulimia nervosa (westliche Kulturen): Eine Essstörung, die hauptsächlich in westlichen Kulturen vorkommt (nur in 5 von 196 Ländern). Betroffene leiden unter wiederkehrenden Episoden von Essattacken, gefolgt von Gegenmaßnahmen wie Erbrechen oder übermäßiger körperlicher Betätigung (Hoek & van Hoeken, 2003).

  13. Taijin-Kyofu-Sho (Japan): Eine kulturspezifische soziale Angststörung, bei der sich Betroffene extrem selbstbewusst fühlen und Angst haben, dass ihr Verhalten oder ihre Körperfunktionen andere beleidigen oder stören könnten (Kirmayer et al., 2012).

  14. Ataque de Nervios (Lateinamerika, Karibik): Eine Störung, die hauptsächlich in lateinamerikanischen und karibischen Kulturen beobachtet wird. Sie äußert sich in emotionalen Ausbrüchen, Ohnmachtsanfällen und hysterischem Verhalten, die oft als Reaktion auf stressige Ereignisse auftreten (Guarnaccia et al., 2005).

  15. Anorexia nervosa (westliche Kulturen): Eine Essstörung, die hauptsächlich in westlichen Kulturen vorkommt (5 von 196 Ländern). Betroffene haben eine gestörte Körperwahrnehmung und eine übermäßige Angst vor Gewichtszunahme, was zu einer restriktiven Nahrungsaufnahme führt (Keel & Klump, 2003).

  16. Running Amok (Malaysia, Philippinen): Eine Störung, bei der Betroffene plötzlich gewalttätige Anfälle zeigen und wahllos Menschen angreifen. Dieses Phänomen wird hauptsächlich in Malaysia und den Philippinen beobachtet und mit psychosozialen Faktoren in Verbindung gebracht.

Diese kulturspezifischen Störungen zeigen die Vielfalt psychischer Gesundheitsprobleme in verschiedenen Kulturen und betonen die Bedeutung einer kultursensiblen Herangehensweise in der Psychologie und Psychotherapie. Es ist wichtig, diese Unterschiede zu verstehen und angemessene Behandlungsansätze zu entwickeln, die den kulturellen Hintergrund der Betroffenen berücksichtigen.

 

Lübeck, Mai 2023

AIHE Academic Institute for Higher Education 

Literaturverzeichnis

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Carod-Artal, F. J., & Vázquez-Cabrera, C. B. (2011). Culture-bound syndromes in migrant populations: The case of Hikikomori. The European Journal of Psychiatry, 25(2), 100-109.

Cheng, A. T., Lee, S., Hsu, J., Lam, S. K., & Cheung, W. M. (2007). Cultural meaning of genital shrinking („Koro“) in Chinese patients with somatoform disorders. Culture, Medicine and Psychiatry, 31(1), 79-91.

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Guarnaccia, P. J., Lewis-Fernández, R., & Marano, M. R. (2005). Toward a Puerto Rican popular nosology: Nervios and ataque de nervios. Culture, Medicine and Psychiatry, 29(1), 9-26.

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Medina-Mora, M. E., Borges, G., Lara, C., Benjet, C., Blanco-Jaimes, C., Fleiz, C., … & Aguilar-Gaxiola, S. (2011). Prevalence of mental disorders and use of services: Results from the Mexican National Survey of Psychiatric Epidemiology. Salud Mental, 34(6), 447-457.

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Rachman, S., & Hodgson, R. (1980). Obsessions and Compulsions. Prentice-Hall.

Zhang, J. P., Zhang, J. Y., Xiao, Z. P., Li, W., Feng, X. W., & Yao, S. Q. (2010). A comparison study of culture-bound syndromes between China and Korea. Culture, Medicine and Psychiatry, 34(3), 460-470.

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