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AIHE Journal
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Transformation von Erinnerungen: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“

Lernen Sie mehr zu dieser Therapiemethode in unseren Masterstudiengängen.

Dieser Wissensletter startet mit einem exklusiven Interview, in dem wir mit Prof. Dr. Andrea Gensel, Geschäftsführerin der AIHE, ein Interview durchführen. Dr. Gensel teilt ihre umfangreichen und wertvollen Erfahrungen aus ihrer langjährigen Tätigkeit als Therapeutin. Direkt im Anschluss an das Interview bieten wir Ihnen einen wissenschaftlichen Artikel zum entsprechenden Thema.

Pressesprecherin AIHE:
Sie haben den interessanten und zunächst paradox erscheinenden Satz erwähnt „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Könnten Sie diesen für uns genauer ausführen? Was bedeutet dieser Satz in Ihrem therapeutischen Kontext?

Andrea Gensel:
Ja, es klingt zunächst paradox, da die Kindheit vorüber ist und nicht änderbar erscheint. Doch was ist Kindheit? 

Pressesprecherin AIHE:
Naja es sind all die Jahre bis zur Jugendzeit. 

Andrea Gensel:
Richtig. Vergangene Jahre. Sie sind vorüber. Was ist denn Ihre Kindheit heute?

Pressesprecherin AIHE:
(Denkt nach) Da sie vorüber ist, habe ich ja nur noch Erinnerung an die Zeiten.

Andrea Gensel:
Richtig. Exakt. Ihre Kindheit sind reine Erinnerungen. Gedankliche Erinnerungen und körperliche Erinnerungen. Ihr Geist und Ihr Körper können nicht unterscheiden, ob die Erinnerungen wahre Begebenheiten oder ob es konstruierte Begebenheiten sind. Es ist ein Gedanke welcher oder ein Gefühl welches hervortritt, was wir Erinnerung nennen. Eine Erinnerung – egal ob sie wahr oder unwahr ist –  löst eine Empfindung aus. 

Wir rekonstruieren Erinnerung und bei diesem Prozess, z.B. Erinnerungen aus der Kindheit, können Fehler passieren und das Gedächtnis versucht automatisch, Erinnerungslücken zu füllen. Wir halten später vielleicht für wahr, was gar nicht passiert ist. Wenn wir an diese Erinnerungen dann denken, lösen sie teils quälende Gefühle aus. Und sind sie wahr, lösen sie identische Gefühle aus. Also warum macht man es sich nicht zu nutze und konstruiert sich eine rundum schöne Kindheit so lange, bis die unschönen Erinnerungen „überschrieben“ sind? 

Pressesprecherin AIHE:
Das klingt zu einfach um wahr zu sein.

Andrea Gensel:
Sie können es wahr werden lassen. Es liegt in Ihren Möglichkeiten.

Pressesprecherin AIHE:
Wie kann ich mir so eine Gedankentransformation denn praktisch vorstellen?

Andrea Gensel:
Eine kleine Fallbeschreibung kann ich erläutern. Die Patientin hieß (Name geändert) Claudia, eine Frau in den Vierzigern, die unter den Auswirkungen einer traumatischen Kindheit litt. Claudia berichtete von zahlreichen Situationen der Vernachlässigung und Misshandlung durch beide Elternteile, die tiefe emotionale Narben hinterlassen hatten. Der Weg zur Heilung begann, als sie sich entschied, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich auf den Prozess einzulassen, nachdem andere Therapiemethoden nicht die Erfolge zeigten, die sie sich erhoffte.

Ich habe ihr Gedächtnistransformation vorgeschlagen und sie darin begleitet, eine alternative, positive Kindheitserfahrung in ihrem Geist zu kreieren. Das Ziel dieses Ansatzes war es, eine heilende, sichere und liebevolle Umgebung zu konstruieren, die der ursprünglichen Kindheitserfahrung von Claudia entgegenwirkte.

Zu Beginn war Claudia skeptisch gegenüber dieser Methode. Doch durch die zuversichtliche und sanfte Anleitung und ihrer Bereitschaft, begann sie, eine neue Szene zu gestalten. Sie stellte sich eine Sonntagmorgen-Szene vor, in der ihre Familie gemeinsam am Frühstückstisch saß. Sie konnte den Duft von frischen Brötchen riechen, die Umarmung und den sanften Druck der Hand ihrer Mutter auf ihrem Haar spüren, ihr liebevolles Lächeln sehen. Alle vier Familienmitglieder hörten einander zu und planten einen Nachmittag im Zoo – ein sicheres, glückliches Bild der Familienidylle.

Mit jeder Therapiesitzung vertiefte Claudia unter Anleitung diese Szene, ergänzte Details und ermöglichte ihren Gefühlen, in die Erfahrung einzutauchen. Sie begann allmählich, das Gefühl von Sicherheit und Liebe mit ihrer Kindheit zu verknüpfen. Irgendwann schnellten ihr bei dem Gedanken an ihre Kindheit diese Bilder in in Erinnerung – und nicht die schmerzhaften. Claudia „überschrieb“ die schmerzhaften Erinnerungen mit dem Bild der liebevollen, sicheren Familienumgebung, die sie sich immer gewünscht hatte. Die neuen Erinnerungen wurden zu ihrer neuen Wahrheit. 

Pressesprecherin AIHE:
Können diese neuen Erinnerungen denn wieder verloren gehen oder verblassen?

Andrea Gensel:
Wenn diese Erinnerungen irgendwann von alleine auftauchen, sind sie genauso real wie die vermeintlich realen. Also nein. Sie bleiben, außer sie werden von anderen Vorstellungen wieder bewußt überschrieben. Diese Therapiemethode ist auch hervorragend mit fast allen Therapiemethoden kombinierbar.

Pressesprecherin AIHE:
Mit fast allen? Mit welchen denn nicht?

Andrea Gensel:
Zum Beispiel mit Therapieverfahren oder -methoden die zum Ziel haben, mit aufkommenden Erinnerungen zu arbeiten. Das sind psychoanalytische und tiefenpsychologische Ansätze. 

Pressesprecherin AIHE:
Herzlichen Dank für dieses interessante Interview, welches mich zum Nachdenken bringt.

Andrea Gensel:
Dann ist viel erreicht. Danke für das wertschätzende Feedback.

Transformation von Erinnerungen:
„Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“

Abstract: Dieser Artikel untersucht den Ansatz der Transformation von Erinnerungen als heilsamen Weg zur Bewältigung traumatischer Kindheitserfahrungen. Es wird argumentiert, dass eine nachträgliche positive Umgestaltung der Wahrnehmung von Kindheitserinnerungen therapeutische Vorteile bieten kann. Basierend auf psychologischer Forschung und Theorie wird diskutiert, wie dieser Prozess ablaufen kann und welche Faktoren zu dessen Erfolg beitragen.

Einleitung:

„Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.“ Dieses Zitat wird häufig in therapeutischen Kontexten verwendet und unterstreicht die Möglichkeit, traumatische Kindheitserinnerungen durch therapeutische Arbeit zu transformieren (Pert, 1999). Es betont das Potenzial zur Heilung und Transformation, unabhängig davon, wie weit in der Vergangenheit die traumatischen Ereignisse liegen.

Hauptteil:

1. Das Konzept der Erinnerungstransformation

Erinnerungen sind nicht statisch, sondern können durch den Prozess des Erinnerns verändert werden (Schacter & Addis, 2007). In diesem Sinne kann therapeutische Arbeit darauf abzielen, schmerzhafte Erinnerungen in einen Kontext zu setzen, der zur Heilung und persönlichen Entwicklung beiträgt (Ecker et al., 2012).

2. Methoden zur Transformation von Erinnerungen

Verschiedene therapeutische Ansätze können zur Transformation von Erinnerungen eingesetzt werden, die von kognitiven bis hin zu körperbasierten Techniken reichen.

Kognitive Umstrukturierung in der kognitiven Verhaltenstherapie beispielsweise, zielt darauf ab, dysfunktionale Gedankenmuster zu identifizieren und durch gesündere Alternativen zu ersetzen (Beck, 2011).

Die Gestalttherapie nutzt Techniken wie das Rollenspiel und die Arbeit mit inneren Bildern, um unbewusste Gefühle und Gedanken bewusst zu machen und die Integration verschiedener Aspekte des Selbst zu fördern (Perls, 1973).

Die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) nutzt Augenbewegungen oder andere Arten von bilateraler Stimulation, um traumatische Erinnerungen zu verarbeiten und ihre emotionalen Auswirkungen zu reduzieren (Shapiro, 2001).

Somatic Experiencing ist ein körperorientierter Ansatz zur Bewältigung von Traumata, der auf der Arbeit von Peter Levine basiert. Es zielt darauf ab, das Nervensystem neu zu regulieren und den Körper dazu zu bringen, festgehaltene traumatische Energie freizusetzen (Levine, 1997).

Die TRE-Methode (Tension and Trauma Releasing Exercises) wurde von David Berceli entwickelt und beinhaltet eine Reihe von einfachen Übungen, um den Körper dazu zu bringen, tiefe muskuläre Muster von Stress, Spannung und Trauma freizusetzen (Berceli, 2005).

Die Kuby-Methode (nach Clemens Kuby) ist ein selbstheilender Ansatz, der das Prinzip der geistigen Selbsteuerung nutzt, um Heilungsprozesse im Körper auszulösen. Es basiert auf der Überzeugung, dass die Wahrnehmung unserer Realität – einschließlich unserer Erinnerungen – von uns selbst gesteuert werden kann und somit Heilung und Transformation möglich sind (Kuby, 2012).

3. Wirksamkeit der Erinnerungstransformation

Die Forschung hat gezeigt, dass das Verändern der Wahrnehmung traumatischer Erinnerungen wirksam sein kann. Eine Meta-Analyse von Chen et al. (2015) fand heraus, dass Methoden zur Transformation von Erinnerungen eine signifikante Reduktion von Symptomen wie Angst und Depression bewirken können.

4. Möglichkeiten und Grenzen der Erinnerungstransformation

Trotz der therapeutischen Potenziale der Erinnerungstransformation muss betont werden, dass sie keine „magische Lösung“ für traumatische Erlebnisse darstellt. Die therapeutische Arbeit erfordert Zeit, Anstrengung und die Unterstützung durch geschulte Fachleute (Ecker et al., 2012). Es sollte auch beachtet werden, dass nicht alle Menschen auf die gleiche Weise auf Therapieansätze reagieren, was die Individualisierung des therapeutischen Ansatzes erfordert (Norcross & Wampold, 2011).

5. Die Rolle der Selbstfürsorge und Resilienz in der Transformation von Erinnerungen

Neben der direkten Arbeit an traumatischen Erinnerungen kann die Stärkung der Selbstfürsorge und Resilienz einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der Transformation leisten. Selbstfürsorge-Praktiken wie Meditation, körperliche Aktivität und soziale Verbindung können die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden fördern (Neff & Germer, 2013). Resilienz, das heißt die Fähigkeit, sich von Widrigkeiten zu erholen und sich anzupassen, kann ebenfalls durch verschiedene Techniken, einschließlich positiver Affirmationen und der Förderung von Optimismus, gestärkt werden (Southwick et al., 2014).

Schlussfolgerung

Die Fähigkeit, unsere Wahrnehmung der eigenen Lebensgeschichte zu verändern und durch positive Erfahrungen zu bereichern, ist ein mächtiges Instrument zur Verbesserung des emotionalen Wohlbefindens und zur Überwindung traumatischer Erinnerungen. Die unterschiedlichen Ansätze zur Transformation von Erinnerungen, die hier vorgestellt wurden, zeigen die Relevanz und den Bedarf einer integrativen und individuell angepassten therapeutischen Herangehensweise.

Diese Methoden – kognitive Umstrukturierung, Gestalttherapie, EMDR-Therapie, Somatic Experiencing, TRE und die Kuby-Methode – haben das Potenzial, traumatische Erinnerungen zu bearbeiten und positive Veränderungen zu fördern. Sie betonen die Anpassungsfähigkeit unseres Geistes und eröffnen neue Wege zur Heilung und Verbesserung der psychischen Gesundheit.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Effektivität dieser Techniken stark von der individuellen Bereitschaft und Fähigkeit abhängt, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen. Die Rolle eines qualifizierten und einfühlsamen Therapeuten ist dabei entscheidend. Darüber hinaus sollte eine maßgeschneiderte Therapie entwickelt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Stärken jeder Person berücksichtigt, um das maximale therapeutische Potential zu entfalten.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Transformation von Erinnerungen eine vielversprechende Methode zur Bewältigung und Heilung von Kindheitstraumata darstellt. Sie unterstützt die These, dass es „nie zu spät für eine glückliche Kindheit“ ist. Trotz ihrer vielversprechenden Ergebnisse ist es jedoch wichtig, dass weitere Forschung betrieben wird, um die genauen Mechanismen dieser Transformationsprozesse besser zu verstehen und effektive Strategien zur Maximierung ihrer Vorteile zu entwickeln.

Lübeck, Oktober 2023

AIHE Academic Institute for Higher Education 

Literaturverzeichnis

Beck, A. T. (2011). Cognitive behavior therapy: Basics and beyond (2nd ed.). Guilford Press.

Berceli, D. (2005). The Revolutionary Trauma Release Process: Transcend Your Toughest Times. Namaste Publishing.

Burnett, R. C., & Blakemore, S. J. (2009). The development of adolescent social cognition. Annals of the New York Academy of Sciences, 1167(1), 51-56.

Cozolino, L. (2014). The Neuroscience of Human Relationships: Attachment and the Developing Social Brain (2nd ed.). W. W. Norton & Company.

Feinstein, D. (2010). Rapid treatment of PTSD: Why psychological exposure with acupoint tapping may be effective. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, 47(3), 385–402.

Kuby, C. (2012). Self-healing with self-created health. Kuby Publishing.

Levine, P. A. (1997). Waking the Tiger: Healing Trauma. North Atlantic Books.

Perls, F. S. (1973). Gestalt therapy verbatim. Real People Press.

Schore, A. N. (2001). Effects of a secure attachment relationship on right brain development, affect regulation, and infant mental health. Infant Mental Health Journal, 22(1-2), 7-66.

Shapiro, F. (2001). Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR): Basic Principles, Protocols, and Procedures (2nd ed.). Guilford Press.

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